Patricia Dander
Time Is a Waste

Mit dem Ausstellungstitel Time Is a Waste ruft Tim Bennett ein – zugegebenermaßen recht obskures – zeitliches Register auf. Tatsächlich geht es in seinen Arbeiten (auch) um Zeit und deren verschiedenartige Manifestationen. Zunächst einmal um Geschwindigkeit, im Sinn von Beiläufigkeit und Spontaneität. Wie schon bei früheren Bildern gibt es auch für die p.o.t.d. Reihe ein vorgelagertes Set an Parametern, die den Prozess der Formfindung pragmatisch verkürzen. Ausgehend von „scribbles“, genauer gesagt von Stiftproben in Schreibwarenläden und deren inhaltsfreier Zeichenhaftigkeit, hat Bennett Formen auf Papier gebracht, die rasch und ohne kompositorische Kontrolle durch das Auge entstehen. Diese Zeichnungen werden in zweiter Instanz auf einen Bildträger übertragen und schichtweise zu einer Gesamtkomposition arrangiert. Hier endet die Geschwindigkeit und überlässt einer anderen Form von Zeitlichkeit das Feld. Was jetzt folgt ist ein langwieriger Prozess, der bestimmt ist von handwerklichen Anforderungen wie langen Trocknungsphasen des Materials; von sukzessiven kompositorischen Entscheidungen über passende oder spannungsgenerierende Überlagerungen; von der Überführung von Spontaneität in eine beständige Bildkonfiguration. In seinen Bildern werden verschiedene Zeitlichkeiten gegeneinander aufgefahren, Geschwindigkeit wird dabei nur vorgetäuscht. Sie implizieren also ein „Anderes“, geben vor zu sein was sie nicht sind. Das ließe sich auch für den Titel behaupten. Tim Bennett wählt eine „verkehrte“ Aussage („Time is a waste“ – Zeit als Verschwendung, statt „A waste of time“ – Zeitverschwendung), die zwar grammatikalisch korrekt ist, sich aber nicht in ein sinnhaftes Gefüge auflösen lässt und im Grunde immer auf ihren semantisch intakten Vorläufer verweist. Solche Transformationen von bereits Existierendem betreibt er in vielen seiner Arbeiten.

Verschiebungen

Mitte der 2000er schrieb er: „Das Bedürfnis zu simulieren, zu komprimieren und die Dinge in neue Zusammenhänge zu bringen ist so alt wie die Menschheit, beziehungsweise so alt wie das, was wir heute als Kunst bezeichnen.“ Im Rückblick auf die vergangenen Jahre scheint es als hätte er dieses Bedürfnis und die dabei zwangsläufigen – und auch produktiven – Missverständnisse zum zentralen Thema seiner Arbeit gemacht. Zum Beispiel mit Melancholia (2007), einer aus verputztem aber ansonsten roh belassenen Gipskarton geschaffenen Form, die eine gestutzte Baumkrone einfasst und einem als Sockel fungierenden Baumstamm übergestülpt ist. Die aufgepfropfte Form ist eine skulpturale Übersetzung des geometrisch komplexen Rhomboederstumpfs aus Albrecht Dürers Melencolia (1514). Dieser enigmatische und bis heute nicht eindeutig interpretierte Kupferstich trägt im Titel den Ausdruck von Schwermut – möglicherweise als „Urbild wissenschaftlich-schöpferischer Arbeit“ , als Zustand, der laut Dürer dem jungen Maler drohe, der sich überanstrenge . Tim Bennett begegnet der postulierten Schwermut sowie der Idee von Perfektion, die der geometrischen Form eingeschrieben ist, mit bewusst „unfertiger“ Erscheinung und damit der produktiven Möglichkeit zur Veränderung. Dabei stellt die Arbeit fast beiläufig semantische Kurzschlüsse (Rhomboederstumpf auf Baumstumpf) und Sinnverschiebungen her (nicht das Kunstschaffen, sondern die Zähmung der Natur als Gegenstand der Trauer). Er überführt den im Kupferstich in zwei Dimensionen simulierten Polyeder in seine räumliche Gestalt. Da davon auszugehen ist, dass Dürer die Form nur auf dem Papier dargestellt hat, schließt Bennett mit Melancholia den Kreislauf von der abstrakten Wissenschaft der Mathematik zur konkreten Übersetzung in die Dreidimensionalität der Skulptur.

Same same but different

Solche loopartigen Übertragungen zwischen verschiedenen Medien (mit ihren Traditionslinien) bestimmen auch die neuen Arbeiten von Tim Bennett, die sich zunächst einmal als Bilder ausgeben. Gearbeitet sind sie jedoch in Spanplatte, in die er Spuren hineingefräst hat, die wiederum in mehreren Schritten mit gefärbtem Stuckmarmor aufgefüllt und zu einer planen Fläche geebnet wurden. Übrig bleibt ein Bild mit verworrenen Lineamenten in klarer, leuchtender Farbgebung, das nur bei oberflächlicher Betrachtung als zweidimensionales durchgeht. Aber genau um die Oberfläche geht es bei dem Material. Denn Stuckmarmor war ursprünglich zu nichts anderem gedacht, als die Oberflächenerscheinung von Marmor zu imitieren. In einem aufwändigen Arbeitsprozess aus Gips, Knochenleim und verschiedenfarbigen Pigmenten hergestellt, wurde der „Marmorkuchen“ erst geknetet – um die Einschlüsse und Maserungen des Steins zu imitieren und sogar ästhetisch fortzuschreiben – und dann in Scheiben auf den Untergrund aufgetragen und endverarbeitet. Dass Stuckmarmor bisweilen teurer war als echter Marmor, ähnlich wie Tim Bennetts Arbeitsschritte weit aufwändiger sind als wenn er, und um dieses Bild geht es ja, frisch aus der Tube Farbe auf die rohe Leinwand gedrückt hätte, scheint eine fast zwingende Koinzidenz.

Wurst

Seine Beschäftigung mit Stuckmarmor begann mit der Darstellung von Wurst – betitelt als p.o.t.d. „portraits of the dead“. Die Motive zeigen Mortadella, Schinkenwurst und Salami, die mit ihren rosanen bis dunkelroten Farbtönen und helleren Einschlüssen von Fett und anderen Zutaten der Struktur von Marmor nicht unähnlich sind. (Dazu der Hinweis, dass der regionale rote Marmor, der in den frühen Münchner Bauten der Nationalsozialisten wie dem heutigen Haus der Kunst, dem Zentralinstitut für Kunstgeschichte oder der Musikhochschule verwendet wurde, im Volksmund den Namen „Blutwurstmarmor“ trug. Ein materieller Kurzschluss von der Blut und Boden Ideologie zu architektonisch-konstruktiven Elementen, und dabei eine verquere Fortschreibung des opulenten Einsatzes von Marmor, beziehungsweise weit häufiger eben Stuckmarmor, im bayerischen Barock. Aber das war nicht Tims Ausgangspunkt.) Nimmt man die Wurst als Motiv der Stuckmarmor-Bilder ernst, eröffnet sich eine Gemengelage von Originalen und Imitaten, die sich kaum mehr auflösen lässt. Weder auf der Motivebene – wenn man mit Stuckmarmor eine Struktur abbildet, die dem Referenzpunkt des Arbeitsmaterials aus ganz anderer Richtung kommend formal ähnelt, was wird dann eigentlich dargestellt? – noch auf Ebene des Mediums und des Materials – wenn die als Bildträger verwendete rohe Spanplatte aussieht wie grobe Nessel, das Objekt an der Wand hängt, die Bildfindung jedoch über bildhauerische Prozesse des Aushebens und wieder Auffüllens von Material funktioniert, was hat man dann vor sich?

Patricia Dander, 2017