Daniela Stöppel
Politik des Materials
Als Adolf Loos vor über einem Jahrhundert von Materialgerechtigkeit sprach, meinte er damit die unverstellte, unkaschierte, undekorierte, also die absolut „reine“ und ornamentfreie Verwendung von Werk- und Baustoffen. Das Material sollte mit sich selbst und seiner Funktion identisch werden, nichts vortäuschen, was es nicht ist, und derart purifiziert auch moralisch – als „gute Form“ – erzieherisch auf den Menschen einwirken. Vielen Dank auch dafür, Adolf.
100 Jahre später leben wir in einer Welt aus Laminatböden, Styrodur-isolierten Hausfassaden, Rigipswänden und Fenstern mit aufgeklebten Plastiksprossen. Das Projekt von Echt- und Gutheit ist offensichtlich – und Gott sei Dank – völlig vor die Wand gefahren, steckt aber – leider – als Idealvorstellung immer noch vielen Köpfen, was nicht zuletzt Firmen wie zum Beispiel Manufactum geschickt kommerziell für sich auszunutzen wissen. Dies ist jedoch angesichts der nun nicht gerade günstigen Preise und der im Grunde fürchterlich reaktionären Früher-War-Alles-Besser-Einstellung an Zynismus kaum zu überbieten. So reicht die durchschnittliche Kaufkraft ohnehin meist nur für Tschibo, der Laminatversion des Schönen und Guten.
Angesichts der aktuellen, pervertierten Situation scheint es angebracht, an die Vision einer symbolischen und referentiell aufgeladenen Materialsprache der späten 1960er Jahre zu erinnern. „Unsere Fenster sehen aus wie und sie sind Fenster; insofern ist die Verwendung solcher Fenster explizit symbolisch“, wie Venturi das in „Learning from Las Vegas“ so großartig kontradiktorisch formulierte, und, indem er hier das Sein gegen das Sein ausspielte, das Material gegen jegliche Form von ontologischer Vereinnahmung und Fetischisierung immunisierte. Der Widerspruch zwischen Schein und Sein, also dem Wahren und dem Falschen, war damit schlicht aufgehoben und dem Essentialismus der Moderne eigentlich das Ende bereitet. Nichtsdestotrotz schlagen wir uns bis heute mit Fragen nach dem Authentischen herum, sehnen uns nach dem unwiederbringlich verlorenen Echten, das wir aber nicht wiederbekommen können, denn, wie wir von Adorno wissen, „nichts kann unverwandelt gerettet werden“.
Materialien und ihre Behandlung sind also per se politisch, dies scheint als Voraussetzung wichtig, um auch die Arbeiten von Tim Bennett in ihrer minimalistischen Formreduktion als politisch verstehen zu können.
Seine favorisierten Werkstoffe sind seit einigen Jahren Gipskartonplatten, aber auch Abflussrohre aus durchgefärbten Kunststoff, standardisierte Lackfarben, Dachlatten oder Streichhölzer spielen eine zentrale Rolle. Er greift bewusst deren funktional oder durch den Herstellungsprozess bedingte formale Qualitäten auf, wie das matte Grau-Grün der Gipskartonplatten, ihr längliches Format, ihre spezifische Schwere, Dichte und Sprödigkeit, ihre Brech-, Falt-, Schneid-, und Schnitzbarkeit. Ein Material, das eigentlich zugespachelt, verputzt, gestrichen oder tapeziert, also kaschiert, werden sollte, liegt so offen und blank – stripped to the bone –, wenn man so möchte irgendwie auch „pur“ da. Zugleich ist es in referentielle Zusammenhänge eingebettet, der Gipskarton ist nicht nur Gipskarton, sondern er symbolisiert ihn zugleich. Als eines der stilbildendsten Materialien der Gegenwart ist er in hohem Grad symbolisch zu verstehen.
Diese doppelte Bedeutungsstruktur des Materials greift Tim Bennett auf und übersteigert diese sogar, indem er sich in seinen Arbeiten mimikryartig der Erscheinung der verwendeten Gegenstände annähert. Mit Furnierhölzern legt er in die Gipskartons intarsienartig Streichholz- oder Abflussrohr-Formen ein, imitiert Verstrebungen aus Dachlatten, mal als zufälliges Streumuster, mal als konstruierte oder geordnete geometrische Struktur. Er lässt das spezifische Grau-Grün der Rigipsplatten als Farbe nachmischen, um Leinwände damit zu grundieren, oder er verdoppelt ein orangefarbenes Abflussrohr mit einer Ummantelung aus Streichhölzern im gleichen Farbton. In diesen Vexierbildern verwischen die Grenzen zwischen Echt und Falsch, Sein und Schein, auch zwischen dem Fiktiv-Illusionistischen der Malerei und der immer ans Materielle zurückgebundenen Skulptur. Damit werden auch die oben erwähnten moralischen Implikationen des Materials aufgebrochen und in einen beständigen Prozess der Neuinterpretation überführt, der sich auch nicht einfach auflösen lässt, sondern immer wieder von Neuem beginnen muss.
Dieses vordergründig sehr analytische und akribische Vorgehen, das auch mit der Vermeidung von einer allzu individuellen Handschrift und teils mit langwieriger monotoner Handarbeit verbunden ist, schließt jedoch nicht aus, dass sich neben einem lakonischen Grundton in vielen Arbeiten auch sehr persönliche und durchaus kritisch-mokante Aspekte artikulieren. In fein dosierten Referenzen, die sich über den Titel oder bestimmte Farbtöne – zum Beispiel „Paradise Green“ als Bezeichnung für einen bestimmten handelsüblichen Grünton – dem Rezipienten vermitteln, werden nicht zuletzt politische oder soziale Themen adressiert. Oft bricht unerwartet Organisches oder Expressives in die ansonsten eher klinischen Industrieoberflächen ein, wie Äste, demolierte Wäscheständer oder Massen von Gipsspachtel. Hier macht sich eine gewisse Widerständigkeit, gepaart mit einer durchaus anarchischen Eigengesetzlichkeit des Materials und des Zufalls, geltend, was gerade das Skulpturale immer noch so brauchbar dafür macht, die Welt, wie sie ist, nicht nur zu analysieren, sondern ihr auch etwas entgegenzusetzen.
Daniela Stöppel, 2017